Selling England by the Pound

 Damals Musik, heute Realität

Heute Morgen, nach dem ersten Kaffee, sah ich die Bilder aus Frankreich von gestern Abend.
Verbrannte Strassen. Jugendliche mit Macheten. Polizeieinheiten im Rückzug.
Und ich dachte: Nicht nur Frankreich geht da gerade in Flammen auf. Auch England. Auch Europa.
Und plötzlich war er da, der Satz:
„Selling England by the Pound.“

Ich hatte Jahrzehnte nicht mehr an diese Platte gedacht. Und plötzlich war sie wieder da, mit Wucht, mit Klang, mit Erinnerung. Als hätte ich sie unter einer Staubschicht hervorgezogen, nicht aus dem Regal, sondern aus mir selbst. Ich fragte mich, wie kann man Europa so billig verkaufen?

Selling England by the Pound

Eine Erinnerung

Ich war dreizehn. Das erste Jahr im Internat. Irgendwo zwischen Verlorenheit, Aufbruch und stillem, …Heimweh. Die Beatles kannte ich. Die Stones auch. Aber Genesis?

Ein älterer Mitschüler legte die Platte auf – Selling England by the Pound. Ich verstand kein einziges Wort. Es interessierte mich auch nicht. Ich liess mich treiben. Die Stücke waren lang, verwoben, keine Refrain, Strophe, Muster, keine Hits, keine schnellen Belohnungen. Dafür Klangflächen, Gitarren, Keyboards, Stimmen aus einer anderen Welt. Und trotzdem: Etwas in mir wurde angestossen. Ich wusste nicht was, aber es blieb.

Meine älteren Kameraden im Internat, die wie ich dort wohnten, prägten mich tief. Wenn ich in den Ferien oder an bestimmten Wochenenden nach Hause kam, spürte ich, wie weit ich mich von meinen Freunden daheim entfernt hatte, ich wusste Dinge, hörte Musik, von denen sie keine Ahnung hatten. Diese neue Welt hatte mich verändert, wortlos, aber grundlegend.

Heute, über 50 Jahre später, erscheint mir dieses Album wie eine stille Vorahnung. Der Titel: Selling England by the Pound. Damals ein kluger Kommentar zum Ausverkauf der britischen Seele. Heute… eine Diagnose mit bedrückender Aktualität.

Danach kamen Queen, Yes, Pink Floyd, wobei mich Floyd nie ganz packten, zu abgehoben vielleicht, zu konzeptuell. Hendrix dagegen, …faszinierend. J.J. Cale und Clapton – laid, back und tief. Janis Joplin, rau und ehrlich. Dylan, ein Prophet, ein Esel, ein Dichter. Später dann Mingus. Doldinger. Mahavishnu, Jazzrock. Und irgendwann Punk. Ich suchte,… und ich fand.

Aber Selling England by the Pound blieb. Wie ein alter Brief, dessen Inhalt man als Kind nicht verstanden hat, aber dessen Papier nach Jahrzehnten immer noch nach etwas riecht, das man kennt.

Was ich damals aber sehr wohl verstand: Der Anfang und das Ende der Platte. Wie sie verbunden waren. Der erste Satz: „Can you tell me where my country lies?“ – eine Frage, die wie aus der Tiefe kam. Und am Ende dann Aisle of Plenty, das Echo der Anfangsfrage, fast schon gespenstisch, wie eine Verzweiflung, die sich als Werbung tarnt. Diese Klammer verstand ich. Auch mit 13.

Ich habe mir dann heute beim Spaziergang mit meinem Hund Benji das Album auf Apple Music wieder angehört. Und obwohl mein heutiges Ohr ganz andere Massstäbe hat, … ja, die Platte ist alt, klingt manchmal verstaubt, aber war es ein Erlebnis. Kein Meisterwerk mehr. Keine meiner Top 20 für die einsame Insel. Aber einzigartig. Nicht, weil sie die beste ist. Sondern weil sie etwas in mir bewahrt hat, das ich längst vergessen glaubte. Erinnerungen tauchten auf: die Soli, der Einsatz von Keyboard und mehrstimmige Gesang, genau so, wie ich es in Erinnerung hatte…

Vielleicht ist das die wahre Stärke von Musik. Dass sie uns leise daran erinnert, wer wir einmal waren und wer wir geworden sind.

Dann die Bilder von Paris heute Morgen…

Ich erinnere mich. Februar 1980, ich wurde 18. Zwei Monate später hatte ich bereits das Autobillet. Ich war vorbereitet, mit 17 den Sanitätskurs gemacht, die Theorie gelernt, fast jeden Tag zwei Fahrstunden. Die Prüfung hatte ich so im Nu. Dann endlich die Sommerferien…

Die Mutter meines besten Freundes gab mir ihren alten Opel Rekord, ein echtes Schiff. Wir bauten noch ein paar fette Lautsprecher rein und fuhren im Sommer vier Wochen lang durch Südfrankreich. Barcelona, Nîmes, Genua, … die ganze Riviera. Wir schliefen draussen, feierten, lebten frei. Hörten Mingus, Miles Davis, Avanches, Openairs, … wow. Wenn ich das alles nicht selbst erlebt hätte, ich würde es heute kaum glauben. Easy Rider im Herzen, Hendrix im Ohr, und überall Mädchen, die genauso wild waren wie wir.

Mein altes Frankreich. Mein jugendliches Europa. Offen, lebendig, widersprüchlich und frei.

Und heute? Brennende Vorstädte. Messer in der Metro. Angst vor dem falschen Wort.

Was ist passiert? Wie konnte man das alles so verlieren?

Selling England by the Pound, damals ein poetischer Titel, ein augenzwinkernder Kommentar zur Amerikanisierung der britischen Seele. Heute? Eine Diagnose. Bitter. Treffend.

Was Genesis in ihrer Sprache der Melancholie, Ironie und Wehmut andeuteten, ist heute brutale Realität. England verkauft sich. Frankreich brennt. Und Europa, mein Europa, verliert sich selbst in Kompromissen, in Ideologien, in einem Schuldkomplex, der längst toxisch geworden ist.

Die Frage „Can you tell me where my country lies?“ … sie war einst der Beginn eines Konzeptalbums. Heute ist sie ein Schrei in den Lärm der Gegenwart.

Was sich heute in England, Frankreich und anderen Teilen Europas abzeichnet, ist nicht einfach „kultureller Wandel“. Es ist eine tiefgreifende Islamisierung des öffentlichen Raums, vorangetrieben von einer politischen Klasse, die entweder nicht sehen will, was passiert, oder sich in ihrem moralischen Hochmut weigert, die Realität zur Kenntnis zu nehmen.

Man hört den Drohungen der Imame nicht zu,  nicht den harten, nicht den gemässigten. Man blendet aus, was auf Schulhöfen, in Moscheen, in Vororten geschieht. Die westlichen Eliten wirken abgehoben, gleichgültig und kümmern sich um die Ostfront. 

Die linken Intellektuellen, die einst unsere Vorbilder waren, auch meine, haben sich in Theorien verrannt. Viele von ihnen waren fasziniert von Mao, von der Revolution, von Utopien, die in der Realität Millionen das Leben kosteten. Ich konnte nie mit jubeln. Die Toten haben mich abgeschreckt. Der Israelhass hat mich wachgerüttelt. Und doch war ich Teil dieser Generation, die glaubte, man könne die Welt mit “link sein” allein retten. Ok, die Bürgerlichen machten es uns ja auch nicht leicht. Die damaligen Betonköpfe in der CVP und FDP trieben uns regelrecht in die Fänge der Linken. Wenn ich nur schon an das Radio denke, das wir damals hatten …

Heute glaube ich: Wer die Realität ignoriert, wird irgendwann von ihr überrollt. Vielleicht braucht es gerade deshalb solche alten Platten. Weil sie uns, ohne es zu wollen, sagen, ihr hattet eine Zeit und ihr hattet etwas, das ihr heute verliert, wie feiner Sand in der Handfläche, durch die Ritzen der Finger, unaufhaltsam.