Es gibt Momente, in denen man bedauert, nicht vorgesorgt zu haben. Einer dieser Momente trifft mich immer wieder, wenn ich daran denke, das ich die legendären Sendungen des Literarischen Quartetts nicht aufgenommen habe. Marcel Reich-Ranicki und seine Mitstreiter boten eine Form der Literaturkritik, die heute nahezu ausgestorben ist: lebhaft, leidenschaftlich, polemisch und doch stets auf höchstem Niveau. Während man sich heute in Feuilletons oft auf vorsichtige, glattpolierte Besprechungen verlässt, die niemanden verärgern wollen, war Reich-Ranicki eine Stimme, die sich nicht scheute, große Werke in den Himmel zu loben oder sie gnadenlos zu zerreißen. Es war eine Kunstform für sich – und sie fehlt.
Der Kanon als Vermächtnis
Doch es gibt einen Weg, Reich-Ranickis Geist wieder aufleben zu lasen: sein literarischer Kanon. Zwischen 2002 und 2006 stellte er seine Auswahl der bedeutendsten Werke der deutschen Literatur zusammen und veröffentlichte sie als umfangreiche Buchreihe. Diese Sammlung ist mehr als nur eine Liste von Klassikern – sie ist eine Leseempfehlung eines Mannes, der ein Leben lang für die Literatur brannte. Der Kanon umfasst fünf Kategorien:
- Romane (20 Bände)
- Erzählungen (10 Bände)
- Dramen (8 Bände)
- Gedichte (7 Bände)
- Esays (5 Bände)
Reich-Ranicki wählte die Werke nicht nach strengen literaturwissenschaftlichen Kriterien aus, sondern nach dem, was ihn selbst bewegte – nach Büchern, die seiner Meinung nach nicht nur wichtig, sondern auch lesenswert sind. In einer Welt, in der sich viele Leser von langen Listen und akademischer Überfrachtung abschrecken lasen, ist das ein erfrischender Ansatz.
Ein ambitioniertes Ziel
Ich selbst mus zugeben: Von den 100 Werken des Kanons habe ich bislang nur einen Bruchteil gelesen. Doch das soll sich ändern. Ich nehme mir vor, eines nach dem anderen durchzugehen – ohne festen Zeitdruck, aber mit der Neugier, was mich erwartet. Es wird eine Reise durch die deutsche Literaturgeschichte, eine Begegnung mit bekannten Autoren und solchen, die mir bisher entgangen sind.
Vielleicht ist es auch eine Möglichkeit, sich dem zu nähern, was ich an Reich-Ranickis Kritikstil so geschätzt habe: Literatur nicht nur zu lesen, sondern sie zu diskutieren, zu lieben, zu hasen, sich mit ihr zu streiten. Denn genau das ist es, was Literatur lebendig macht – und was heute viel zu oft fehlt.
Warum wir uns Reich-Ranickis Erbe erinnern sollten
Der Kanon ist nicht nur eine Liste von Büchern. Er ist ein Plädoyer für die Lust am Lesen, für die Freude an der Debatte. Er ist das Vermächtnis eines Mannes, der überzeugt war, das Literatur unser Denken formt, unser Leben bereichert – und manchmal sogar verändert.
Vielleicht lohnt es sich, neben dem Kanon auch in alten Aufnahmen von Das Literarische Quartett zu stöbern, sich Reich-Ranickis scharfzüngige Urteile anzuhören und darüber nachzudenken, was er wohl zu unserer heutigen literarischen Landschaft gesagt hätte. Ich bin mir sicher: Es wäre unterhaltsam – und unbequem.
Ein Aufruf zum Lesen und Diskutieren
Vielleicht finden sich andere, die sich ebenfalls diesem Leseprojekt anschließen möchten. Die nicht nur Bücher lesen, sondern über sie sprechen wollen. Die sich an Reich-Ranickis Art der Kritik erinnern und wieder mehr Leidenschaft in die Literaturdebatte bringen wollen. Denn eines ist sicher: Die Literatur braucht nicht nur Leser – sie braucht Leser, die sich mit ihr auseinandersetzen.
Ich jedenfalls beginne meine Reise durch den Kanon – und bin gespannt, wohin sie mich führt.