Jeffrey Sachs, einst Wunderökonom, heute selbsternannter Welterklärer, tritt auf der globalen Bühne auf wie ein moralischer Chronist. Er inszeniert sich als gewissenhafte Mahnfigur gegen die Übel der Welt, vom Imperialismus bis zur Ungerechtigkeit. Doch hinter dem Heiligenschein blitzen mitunter Schatten auf: Verschwörungsrhetorik und subtile Andeutungen, die an dunkle Klischees erinnern. Sachs, der Moralist von der Wall Street, predigt lautstark Moral, allerdings mit auffällig selektivem Empörungsbarometer.
Zwischen Anspruch und Abgrund
Mit professoraler Geste geisselt Sachs westliche Sünden und beschwört höhere Werte. Er präsentiert sich als moralische Instanz, als jemand, der den Mächtigen unverblümt die Wahrheit sagt. Doch gerade in dieser Pose schlittert er immer wieder in fragwürdige Gefilde. In Interviews verbreitet er kühn Behauptungen, die eher ins Reich der Verschwörungen passen. Jüngst fabulierte er etwa von einem “Jahrzehnte währenden Komplott” Israels gegen unbotmässige Regierungen im Nahen Osten. Die USA, so meint er, würden vom berüchtigten „Israel-Lobby“ ferngesteuert Kriege führen, eine Argumentation, die klassische antisemitische Topoi bemüht . Dass ausgerechnet Sachs, selbst jüdischer Herkunft, solche Andeutungen in die Welt setzt, verleiht dem Ganzen eine bittere Ironie. Aus dem Mund des selbsternannten Moralapostels klingt es, als habe er die Weltformel enthüllt, während er in Wahrheit uralte Verschwörungsmythen neu verpackt.
Der Ökonom, der einst als Armutsbekämpfer und Entwicklungshelfer gefeiert wurde, taucht nun in Talkshows auf, wo er im Brustton der Überzeugung geheime Strippenzieher entlarvt. Einst renommiert, hat er laut Beobachtern eine “verstörende Verwandlung vom angesehenen Ökonomen zum freelance-Propagandisten des Kreml” durchgemacht. Mit scharfzüngiger Polemik geisselt er westliche Politiker als Kriegstreiber, während er gleichzeitig jene hofiert, die in seinen Theorien immer unschuldig bleiben.
Doppelter Standard mit Heiligenschein
Sachs’ Empörung verteilt sich selektiv über den Globus, mal mit inquisitorischem Eifer, mal mit sanftem Verständnis. Auffällig ist, wen er ins Visier nimmt und wen er verschont.
Im Visier des Moralsachverständigen:
Mit Vorliebe prangert er die USA und ihre Verbündeten an. Washingtons „Imperium“ sei an praktisch allem schuld, von Ukraine bis Nahost. Gegen Israel fährt er schwere Geschütze auf, nennt es implizit den Drahtzieher amerikanischer Politik, und auch die NATO kriegt ihr Fett weg als angeblicher Provokateur weltweiter Konflikte. Über westliche Militäreinsätze spricht er mit dramatischer Empörung, jedes Fehlverhalten des Westens gerinnt bei ihm zur moralischen Todsünde.
Mit Samthandschuhen behandelt:
Russland und China dagegen begegnet Sachs mit bemerkenswerter Nachsicht. Moskaus Aggressionen werden von ihm gerne als verständliche Reaktionen umlackiert, die NATO habe Russland eben „gezwungen“, sich zu wehren. Dass der Kreml einen brutalen Krieg in der Ukraine vom Zaun gebrochen hat, geht im Sachs’schen Narrativ fast unter; vielmehr echot er Putins Linien von der legitimen Sicherheitsangst Russlands. Ähnlich milde tönt er in Richtung Peking: China sei im Grunde missverstanden und umzingelt vom Westen. So fordert Sachs etwa allen Ernstes den Abzug der US-Truppen aus Ostasien, da es „keinen historischen Grund gebe, an eine chinesische Aggression zu glauben“. Menschenrechtsverletzungen oder Machtansprüche Pekings? Fehlanzeige in seinen Ausführungen.
Diese selektive Empörung wirft Fragen auf
Während Sachs sich als moralischer Kompass geriert, zeigt die Nadel seines Kompasses eine deutliche Schieflage. Wenn es um Autokraten wie Syriens Machthaber Assad geht, verwandelt sich Sachs vom Ankläger zum Verteidiger: Assad habe ein „normales, funktionierendes Land“ regiert, behauptet er allen Ernstes, und verharmlost Gräueltaten als westliche Propaganda. Hier entlarvt sich der Moralist endgültig als Relativierer. Dem einen hält er Predigten, den anderen wischt er Blut von den Händen, zumindest rhetorisch.
Der Chronist mit zweierlei Mass
Im Stil eines Chronisten malt Sachs ein Weltbild, das an alten Ost-West-Schablonen klebt. Seine Analysen haben durchaus Tiefe, wenn er etwa die Fehler amerikanischer Aussenpolitik sezieren, darin ist er kenntnisreich und oft treffend. Doch was nützt die brillanteste Analyse, wenn sie von Ideologie durchsäuert ist? Sachs agiert wie ein Kommentator, der einen Filter vor dem Fernrohr hat. Er sieht glasklar die Verfehlungen der einen Seite, während er die der anderen Seite konsequent ausblendet. Das Ergebnis ist eine schiefe Chronik der Weltpolitik, meinungsstark, aber verzerrt.
Ironie und Zuspitzung beherrscht Sachs selbst meisterhaft, wenn er über westliche Politiker herzieht. Da wird dann ein US-Präsident schnell zum gefährlichen Imperialisten gestempelt, während ein russischer Autokrat bei ihm als missverstandener Sicherheitsbedürftiger durchgeht. Die Polemik, die er einsetzt, fällt letztlich auf ihn selbst zurück: Der Moralist von der Wall Street steht im Verdacht, genau das zu sein, was er vorgibt zu bekämpfen, ein Ideologe mit eigener Agenda. Seine Rolle als geopolitischer Kommentator entpuppt sich als Gratwanderung zwischen berechtigter Kritik und bizarrer Apologie für Unrechtsregime.
Am Ende bleibt ein schaler Nachgeschmack. Jeffrey Sachs wollte wohl das moralische Gewissen der Welt sein, doch wenn dieses Gewissen selektiv schlägt, richtet es womöglich mehr Unheil an, als dass es nützt. Ein Chronist, der die halbe Wahrheit mit voller Empörung verkündet, verliert an Glaubwürdigkeit. Sachs hat sich in eine Ecke manövriert, in der sein moralisierender Ton zunehmend hohl klingt. Die Welt ist komplex, aber in Sachs’ Erzählung erstaunlich simpel, Schuld hat fast immer der Westen. Der Moralapostel geniesst die Aufmerksamkeit, doch ob er der Welt damit einen Dienst erweist, steht auf einem anderen Blatt. So bleibt Sachs letztlich ein Mahner mit gebrochenem Kompass, ein Chronist, der mit zweierlei Mass misst und dabei selbst zum Gegenstand kritischer Betrachtung wird.
Der Architekt und der Sand
Ein Architekt steht vor einer Wüste aus Sand, dem postsowjetischen Russland der frühen 1990er. In der Hand hält er einen ehrgeizigen Bauplan: rasche Marktöffnung, Privatisierung, Schocktherapie. Der Architekt heisst Jeffrey Sachs. Er weiss, dass der Boden instabil ist: Korruption durchzieht die Erde, Rechtsstaatlichkeit ist ein Flickenteppich, politische Stürme fegen über das Land. Trotzdem beginnt er, mit hastigen Strichen sein Gebäude zu entwerfen: Eine freie Marktwirtschaft soll hier aus dem Boden gestampft werden, schnell und radikal. Es ist, als wolle er ein gläsernes Hochhaus auf Treibsand errichten, in der Hoffnung, Geschwindigkeit könne Fundament ersetzen.
Blaupause auf Treibsand
Nach dem Kollaps der Sowjetunion 1991 herrscht Chaos: Die Wirtschaft liegt am Boden, die Staatskassen sind leer, die Inflation galoppiert. In diesem Umfeld schlägt Sachs als Berater der russischen Regierung eine neoliberale Schocktherapie vor. Die Idee dahinter: Preiskontrollen sofort abschaffen, den Rubel freigeben, Staatsbetriebe flott privatisieren, ein radikaler Neuanfang in Rekordzeit. Der Architekt Sachs ist überzeugt, dass nur ein schneller Schnitt den Patienten retten kann. Doch er übersieht, dass der Operationssaal voller Keime ist. Denn was nützt die beste ökonomische Theorie, wenn Korruption und Rechtsvakuum ihr Fundament untergraben?
Die Umsetzung beginnt im Januar 1992, und schon bald zeigen sich Risse im Gebälk. Die Preise schiessen durch die Decke, der Rubel verliert dramatisch an Wert, Ersparnisse der Bevölkerung schmelzen dahin. Das Land versinkt in Hyperinflation und Armut. Binnen kurzer Zeit kostet das Nötigste ein Vielfaches, Millionen Russen rutschen unter die Armutsgrenze. Tatsächlich stieg der Anteil der in Armut lebenden Russen von etwa 2 % am Ende der Sowjetzeit auf rund 50 % Mitte der 90er, ein beispielloser Absturz. Die wirtschaftliche Schocktherapie wirkte für die einfachen Menschen verheerend und zehrte ihre Lebensgrundlagen aus. Währenddessen nutzen findige Insider die chaotische Privatisierung, um frühere Staatskonzerne an sich zu reissen. Eine neue Klasse von Oligarchen entsteht in Windeseile, wenige Gewinner, millionenfache Verlierer. Das ökonomische Gebäude, das Sachs entworfen hat, beginnt zu schwanken, noch ehe es richtig steht.
Schon bald zeigt sich: Das Haus steht schief. Die erhoffte Marktwirtschaft gleitet ab in Wildwest-Kapitalismus. Ohne funktionierende Gerichte, ohne effektive Gesetze wird der freie Markt zur Räuberhöhle. Korruption blüht, anstatt besiegt zu werden, die Schocktherapie hat das Übel eher verschlimmert. Russland erlebt in den 90ern einen beispiellosen Anstieg der Sterblichkeit; Experten sprechen vom schlimmsten friedenszeitlichen Demografie-Einbruch in einem Industrieland . Das soziale Gefüge bricht, während die Architekten in ihren Plänen vertieft sind. Sachs’ Denkfehler zeigt sich nun in voller Tragik: Er hat den Zustand des Bodens ignoriert. Der unstabile Untergrund, Korruption, kein Rechtsstaat, kein soziales Netz, hätte ganz andere Vorarbeiten benötigt, bevor man ein derart kühnes Bauprojekt startet. Stattdessen wurde auf Sand gebaut, und das Gebäude stürzt ein. Die Mehrheit der Russen erlebt die 90er als wirtschaftlichen Albtraum, schlimmer noch als die Grosse Depression des Westens.
Wenn die Säulen fallen, und der Architekt weiterzeichnet
Als die Konstruktion krachend zusammenfällt, regnet es Kritik. Westliche Beobachter und russische Bürger fragen: War dieser radikale Plan nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Sachs jedoch tritt vom Trümmerhaufen zurück und wischt den Staub von seinem Revers. Verantwortung? Nicht bei ihm, behauptet er. Sein Plan sei richtig gewesen, nur falsch umgesetzt. Tatsächlich distanziert er sich später vehement von den schlimmsten Auswüchsen. Mit der korrupten Privatisierung habe er “nichts zu tun gehabt”, diese sogar “energisch abgelehnt”. Er betont, sein Beratungsmandat habe nur die Makroökonomie umfasst, als ob die Aufteilung in Zuständigkeiten die Gesamtkatastrophe mildert. Auch habe man seine Ratschläge ignoriert. Viele Reformschritte seien nie umgesetzt worden, klagt er. So habe etwa ein tragfähiges soziales Netz gefehlt, das er empfohlen habe, und die Geldpolitik sei nicht konsequent genug stabilisiert worden. Kurzum: Sachs sieht das Versagen bei anderen, bei den russischen Hardlinern, die seine Pillen zu früh absetzten, und bei westlichen Gebern, die versprochene Milliardenhilfen schuldig geblieben seien. Dass es ohne massives Auslandskapital kaum gehen würde, hatte Sachs tatsächlich angemahnt, vergeblich. In seinen Augen ist also nicht die Therapie schuld, sondern die unterbliebene Nachsorge.
Diese Selbstentlastung zieht sich durch Sachs’ Kommentare in den Jahren danach. Er argumentiert, die Schocktherapie habe in Russland “nie eine faire Chance bekommen”, was implizieren soll, dass sein Modell grundsätzlich gestimmt habe. Doch Kritiker wenden ein, dass ein gutes Modell sich auch an die Realitäten anpassen muss. Und die Realität in Russland 1992 war nun mal ein „Sandboden“: marode Institutionen, mächtige alte Eliten, keinerlei Tradition von Rechtsstaatlichkeit. Ein solches Umfeld in eine Turbo-Marktwirtschaft verwandeln zu wollen, war selbst ein radikales Experiment. Wirtschaftsnobelpreisträger wie Joseph Stiglitz warnten früh, dass zu viel Eile ohne Aufbau von Institutionen fatal sein könne. Auch der Ökonom William Easterly betonte, funktionierende Marktwirtschaft brauche ein Fundament aus Gesetzen und Regeln, das man nicht über Nacht erschaffen kann. Doch die Architekten der Schocktherapie schlugen diese Mahnungen in den Wind, mit bekannten Folgen.
Echo der Verantwortung
Der Einsturz des russischen Wirtschafts-Neubaus hatte nicht nur ökonomische, sondern auch politische Folgen. Viele Russen fühlten sich vom Westen getäuscht und gedemütigt. Das freiheitliche Demokratie-Experiment wurde durch das Chaos der 90er diskreditiert, was letztlich den Ruf nach einem „starken Mann“ laut werden liess. In den Trümmern der Schocktherapie fand ein Wladimir Putin den Nährboden für seinen Aufstieg. Ein bitteres historisches Paradox: Sachs, der helfen wollte, Russlands Demokratie und Markt zu installieren, hat ungewollt mitgeholfen, die Grundlage für eine autoritäre Restauration zu legen. Der Architekt wollte ein strahlendes Haus bauen, und schuf unbewusst den Sandsturm, der es hinwegfegte.
Heute blickt Jeffrey Sachs auf dieses Kapitel mit gemischten Gefühlen. Einerseits verteidigt er noch immer die Prinzipien seines Plans, andrerseits gesteht er Enttäuschung über die damaligen Partner ein. Doch echte Selbstkritik bleibt rar. Die Metapher vom Architekten auf Sand drängt sich auf: Sachs’ Fehler lag nicht nur in Detailfragen der Bauausführung, sondern schon in der Arroganz des Entwurfs. Er glaubte, die Gesetze des Fundaments ignorieren zu können, dass Markt und Kapitalismus einfach funktionieren, sobald man sie liberalisiert, selbst wenn die tragenden Säulen von Rechtsstaat und Stabilität fehlen. Dieses blinde Vertrauen ins eigene Modell hat sich gerächt.
Der Chronist in uns kann feststellen: Der Architekt Sachs hat aus dem Einsturz gelernt, allerdings vor allem, wie man die Schuld elegant delegiert. Die Verantwortung für das gescheiterte Projekt schiebt er gern anderen zu, während er selbst weiterzieht, nun als Kommentator der Weltordnung. Doch die Geschichte des Hauses auf Sand bleibt ein Mahnmal. Sie zeigt, dass grossspurige Pläne am Ende Realitätstests bestehen müssen. Sachs’ Schocktherapie in Russland ist in sich zusammengefallen, weil ihre Konstrukteure die Basis ignorierten. Der Architekt wanderte weiter, doch der Sand klebt bis heute an seinen Stiefeln. Seine Blaupause mag auf dem Reissbrett brillant gewesen sein; in der Praxis wurde sie zu Treibsand für ein ganzes Land. Und so steht Jeffrey Sachs, der Architekt, etwas ratlos vor dem Schutthaufen, den sein Werk hinterliess, umgeben vom Echo der Verantwortung, der er zu entfliehen suchte.