Ein Blick auf X genügt, um zu sehen: Die Angst geht um.
Sie richtet sich nicht mehr gegen einen konkreten Feind, sondern gegen ein diffuses Gespenst: den Rechtsextremismus, verkörpert durch AfD, SVP und ähnliche Erscheinungen. Man diskutiert nicht mehr nüchtern. Man fürchtet. Man ringt um Kontrolle, nicht über die Extreme, sondern über die eigenen Landsleute.
Es erinnert an eine andere Zeit, an die 70er-Jahre, als Andersdenkende stigmatisiert wurden: POCH-Mitglieder, linke Lehrer, politische Abweichler.
Damals war der Begriff „POCH-Lehrer“ für uns kleine Buben ein fester Bestandteil der Schulhofsprache, verbunden mit echter Angst vor den „bösen Kommunisten“. Eine Angst, die vielleicht gar nicht so unbegründet war, schliesslich waren linke Figuren wie Mao oder Stalin keine Chorknaben, sondern Männer, die Millionen Leben vernichteten genau wie Hitler, der heute absurderweise als Vergleichsgrösse für harmlose SVP- oder AfD-Politiker herangezogen wird und dadurch selbst verharmlost wird.
Und doch haben wir es damals überlebt.
Ich habe gelernt, dass demokratische Reife sich nicht im Sieg über Andersdenkende zeigt, sondern in der Fähigkeit, ihre Existenz zu ertragen.
Das Gute an einer echten Demokratie ist, dass sie Extreme aushält und nicht indem sie sie vernichtet oder “überwindet”, sondern indem sie sie übersteht. Die Schweiz zeigt es bis heute. Bei Abstimmungen an einem Sonntag können sowohl linke als auch rechte Anliegen angenommen oder verworfen werden ohne dass die Republik wankt.
Das ist Souveränität.

Ferdinand Hodlers Gemälde „Einmütigkeit“ spiegelt diese Spannung auf eindrückliche Weise.
Menschen unterschiedlichster Herkunft heben die Hand zum Schwur, in perfekter Synchronität. Keiner bricht die Linie, keiner senkt die Hand. Ein einziger der abweichen würde, ein Arm zu tief, ein Körper nicht ganz aufgerichtet, würde die Harmonie stören und sichtbar aus der Gemeinschaft fallen.
Vielleicht will uns Hodler genau darauf aufmerksam machen. Dass vollkommene Einmütigkeit eine schöne Vorstellung ist aber letztlich eine Illusion. Menschen sind verschieden. Wahre Demokratie braucht keine perfekte Harmonie, sondern die Reife, unterschiedliche Meinungen auszuhalten, ohne daran zu zerbrechen.
Auch heute steht die perfekte Einmütigkeit hoch im Kurs. Wer im orchestrierten Mainstream nicht mit der gleichen Handhöhe schwört, wer Zweifel äussert oder eigene Gedanken formuliert, stört die perfekte Choreografie und wird ausgegrenzt. Nicht, weil seine Gedanken falsch wären, sondern weil sie das Bild der Einmütigkeit bricht. Doch Demokratie lebt nicht vom Gleichschritt. Sie lebt von der Fähigkeit, Uneinigkeit zu ertragen, ohne das Gemeinsame zu verlieren.
Wahre Einmütigkeit gibt es nicht.
Aber durch Freiheit entsteht eine Verbundenheit, die der Einmütigkeit weit überlegen ist.