Der kaukasische Kreidekreis

von Bertold Brecht

Es gibt Erlebnisse, die sich tief ins Gedächtnis eingraben, um dann, Jahrzehnte später, unvermittelt wieder aufzutauchen. So ging es mir mit Bertolt Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“, einem Theaterstück, das wir vor über 40 Jahren in der Schule gelesen und diskutiert haben und sogar noch geprüft worden sind. Warum es mir ausgerechnet heute Nacht in den Sinn gekommen ist? Vielleicht war es die unbewusste Sehnsucht nach einer klaren, wenn auch ungewöhnlichen Gerechtigkeit. Oder die simple Tatsache, dass ich in letzter Zeit zu viel über Baurechte, Eigentumswohnungen, Besitzansprüche, Abrahams Landkauf in Hebron, Recht und Moral nachgedacht habe, beruflich bedingt als Immobilienbewerter kein allzu seltenes Phänomen. Sei es drum, Zeit, dieses epische Drama erneut unter die Lupe zu nehmen!

Theater, Drama, Allegorie – und warum das nicht so trocken ist, wie es klingt

Bevor wir uns kopfüber in die Handlung stürzen, ein paar Worte zum Genre: Brecht war ein Meister des epischen Theaters. Seine Werke sind keine emotionalen Achterbahnen, die uns weinen oder lachen lassen sollen, sondern Denkanstösse, die das uns mit einer Mischung aus Ironie, Distanz und kluger Symbolik herausfordern sollen. „Der kaukasische Kreidekreis“ ist dabei eine Allegorie, also eine Geschichte mit einer tieferen Bedeutungsebene.

Kurz gesagt: Es geht nicht nur um eine Gerichtsverhandlung mit einem Kind in einem Kreidekreis, sondern um die grosse Frage: Wem gehört etwas wirklich? Dem, der es besitzt, oder dem, der sich darum kümmert? Eine Frage, die, nebenbei bemerkt, bis heute in politischen, gesellschaftlichen und familiären Streitigkeiten immer wieder auftaucht. (Stichwort: Wer bekommt das letzte Stück Kuchen?)

Zusammenfassung der Handlung

Prolog – Der Streit ums Land

Das Stück beginnt mit einem Prolog, der wie ein eigenständiges kleines Drama funktioniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg streiten zwei Gruppen von Bauern in der Sowjetunion um ein Stück Land:

  • Die Ziegenhirten wollen es als Weideland nutzen.
  • Die Obstbauern wollen es bewirtschaften und fruchtbar machen.

Um zu entscheiden, wem das Land gehören soll, wird eine Geschichte erzählt: Die Geschichte des Kreidekreises. Wer gut auf etwas aufpasst, soll es besitzen, mit dieser Botschaft beginnt die eigentliche Handlung.

Teil 1: Revolution und Flucht – Die Geburt einer Heldenfigur

In einer fiktiven Stadt im Kaukasus wird der Gouverneur gestürzt und hingerichtet. Seine Frau, Natella Abaschwili, flieht in Panik und lässt dabei ihren kleinen Sohn Michael zurück. (Prioritätensetzung war nicht ihre Stärke.) Das Kind bleibt hilflos zurück, während sich die Dienerschaft diskret verdrückt.

Da tritt die wahre Heldin auf den Plan: Grusche Vachnadze, eine einfache Magd. Sie kann nicht mit ansehen, wie das Kind seinem Schicksal überlassen wird, und nimmt es mit sich, im Wissen, dass sie sich damit selbst in Gefahr bringen könnte. Ihre Flucht führt sie durch zahlreiche Schwierigkeiten, über eine gefährliche Brücke und in eine arrangierte Ehe mit einem scheinbar sterbenden Bauern, nur um das Kind zu retten. (Der Bauer stirbt dann dummerweise nicht, aber das ist eine andere Geschichte.)

Teil 2: Die Mutter kehrt zurück – Und will ihr „Eigentum“ zurück

Jahre später taucht die Gouverneursfrau Natella wieder auf. Nun, da sich die politische Lage stabilisiert hat, erinnert sie sich plötzlich an ihren Sohn, aber nicht aus Mutterliebe, sondern weil sie ohne ihn ihr Erbe nicht antreten kann. Der Fall landet vor Gericht.

Teil 3: Azdak – Ein Richter der besonderen Art

Hier kommt Azdak, einer der skurrilsten Richterfiguren der Theatergeschichte, ins Spiel. Azdak war eigentlich nur ein einfacher Schreiber, wurde aber durch Zufall (und eine skurrile Wendung des Schicksals) Richter. Seine Urteile sind unorthodox, oft korrupt, und doch auch erstaunliche Weise meist gerecht.

Im Streit zwischen Grusche und Natella entscheidet er, den Kreidekreis-Test durchzuführen:

  • Das Kind wird in die Mitte eines Kreises gestellt.
  • Beide Frauen sollen es an sich ziehen.
  • Wer es aus dem Kreis ziehen kann, bekommt es zugesprochen.

Natella packt beherzt zu. Grusche jedoch kann es nicht übers Herz bringen, das Kind zu verletzen und lässt los.

Das Urteil? Grusche ist die wahre Mutter, weil sie aus Liebe verzichtet.

Schluss: Gerechtigkeit siegt, zumindest in diesem Fall

Azdak spricht Grusche das Kind zu, segnet ihre Ehe mit dem Soldaten Simon (ihrer eigentlichen Liebe) und verschwindet. Die Geschichte endet mit der Botschaft: Besitz ist nicht das, was auf dem Papier steht, sondern das, worum man sich kümmert.

Warum dieses Stück nach 40 Jahren wieder in den Sinn kommt

Manche Geschichten haben eine zeitlose Kraft. Die Frage nach Gerechtigkeit, Besitz und Verantwortung ist universell – ob es nun um Land, Kinder oder metaphorische Kreise in der Gesellschaft geht. Vielleicht also kein Wunder, dass mir Brecht nach so vielen Jahren wieder in den Kopf gekommen ist. (Oder ich sollte als Immobilienbewerter einfach weniger über Eigentumsfragen nachdenken?)

Ein Interpretationsversuch

Ich kann mich noch erinnern, wie wir in der Schule die Interpretation vor 40 Jahren in etwa formuliert haben. Damals sahen wir Brechts Der kaukasische Kreidekreis als eine Art moralisches Experiment: Wem gehört etwas wirklich? Dem, der es auf dem Papier besitzt, oder dem, der sich tatsächlich darum kümmert?

Brecht stellt das mit seinem typischen Augenzwinkern dar – er schickt eine einfache Magd und einen ziemlich durchgeknallten Richter in einen absurden Rechtsstreit, der am Ende eine tiefere Wahrheit enthüllt. Azdak, dieser schlitzohrige Anti-Richter, entscheidet nicht nach trockenen Paragrafen, sondern nach gesundem Menschenverstand (zumindest meistens). Und so bekommt am Ende nicht die feine Dame das Kind zurück, sondern diejenige, die es mit Herzblut grossgezogen hat.

Früher wurde uns das als lupenreine Gesellschaftskritik verkauft: Kapitalismus böse, Volk gut. Besitz sollte nicht nur denen gehören, die ihn sich leisten können, sondern denen, die ihn sinnvoll nutzen. Damals klang das logisch. Heute sieht man es vielleicht etwas differenzierter. Ist es wirklich so einfach? Und was, wenn Azdak mit seinen spontanen Urteilen mal falsch liegt?

Nun, als Immobilienbewerter stelle ich mir die grundsätzliche Frage immer wieder: Kann man Land überhaupt besitzen? Luft oder den Wind kann man schliesslich auch nicht besitzen, wie es einst ein Indianer fragte, als die Weissen ihm das Land abkaufen wollten. Überträgt man Brechts Logik auf den Wohnungsmarkt, könnte man also fragen: Gehört eine Wohnung dem, der sie erschaffen hat, der sie kauft, oder dem, der darin lebt? Ist ein Investor, der leerstehende Wohnungen hält, wie die leibliche Mutter – formal der Besitzer, aber ohne echtes Interesse an der Nutzung? Oder ist der Mieter die moderne Grusche, die zwar nicht im Grundbuch steht, aber das Zuhause aktiv mit Leben füllt?

Doch hier stösst Brechts Modell an eine Grenze. Während Land einfach da ist, muss Wohnraum erst geschaffen werden. Es reicht nicht, ein Haus zu bewohnen – jemand muss es bauen, instand halten und finanzieren. Ein Mieter zahlt für die Nutzung, trägt aber meist keine Verantwortung für den langfristigen Erhalt. Ein Eigentümer wiederum kann entweder als verantwortungsvoller Verwalter auftreten oder als Spekulant, der nur auf Gewinnmaximierung aus ist.

Zudem gibt es Menschen, die gar kein Eigentum wollen, weil es verpflichtet und die persönliche Freiheit einschränkt. Viele Mieter leben über die Jahre in verschiedenen Wohnungen – mal klein, mal gross, mal wieder kleiner – je nach Lebenssituation. Sie sind in gewisser Weise moderne Nomaden, die sich nicht an einen einzigen Ort binden möchten. Eigentum würde ihnen eher zur Last werden als zur Sicherheit.

Vielleicht müsste Azdaks Urteil heute also lauten: Besitz verpflichtet. Wer Wohnraum nur als Anlage sieht, aber nicht zur Lebensqualität beiträgt, sollte sein Eigentum verlieren. Doch das bedeutet nicht, dass Eigentümer enteignet werden – vielmehr würden sie durch Wertminderung und steigende Kosten in eine Lage geraten, in der ihr Besitz zur Belastung wird. Ohne nachhaltige Bewirtschaftung kann eine Immobilie mehr Kosten verursachen, als sie abwirft. So entzieht sich das Eigentum auf eine ganz natürliche Weise denen, die es nur als reines Anlageobjekt betrachten.

Brechts Idee, dass Eigentum nicht nur auf dem Papier existiert, sondern durch aktive Fürsorge legitimiert wird, bleibt also hochaktuell – nicht nur im Theater, sondern auch in der Realität der Immobilienmärkte. Und nicht nur dort: Man könnte Brechts Prinzip auch auf viele andere Lebensbereiche anwenden. Etwa auf die Neurobiologie, wo sich zeigt, dass Verantwortung und Fürsorge nicht nur äussere Pflichten sind, sondern sich tief in unser Gehirn einschreiben. Oder auf die Spieltheorie, wo sich oft herausstellt, dass Kooperation langfristig mehr bringt als egoistisches Verhalten. Auch in der Weltpolitik, etwa in Ländern und Nationen, zeigt sich immer wieder, dass Besitz allein nicht reicht, ob im Nahen Osten oder in anderen Konfliktzonen, in denen die Frage „Wem gehört dieses Land wirklich?“ noch immer ungeklärt ist.

Ein interessantes Beispiel hierfür ist das heutige Israel. Die jüdische Verbindung zu diesem Land geht nicht nur auf biblische Zeiten zurück, als Abraham Land kaufte, sondern auch auf die jüngere Geschichte. Vor etwas mehr als 140 Jahren war das Land grösstenteils unbewohnbar, … sumpfig, von Malaria geplagt und kaum wirtschaftlich nutzbar. Es gab nur vereinzelte Beduinen, die als Nomaden durchzogen. Erst mit der jüdischen Einwanderung ab dem späten 19. Jahrhundert wurde das Land bewirtschaftet, Sümpfe wurden trockengelegt, Malaria bekämpft und moderne landwirtschaftliche Strukturen aufgebaut. Und das Entscheidende: Dieses Land wurde legal gekauft, oft zu überhöhten Preisen von arabischen Grossgrundbesitzern, die in Beirut oder Damaskus lebten und wenig Interesse an dem als wertlos geltenden Land hatten.

Die Geschichte nahm jedoch eine weitere Wendung: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der jüdische Staat gegründet, aber die arabische Welt erkannte ihn nicht an. Die Kriege, die folgten, wurden zunächst von den arabischen Nachbarstaaten begonnen, in der Erwartung, Israel auszulöschen. Doch mit jedem dieser Konflikte, ob 1948, 1967, 1973 und bis Heute (ev. Gaza), verlor die arabische Seite Territorium, weil sie im Kampf gegen Israel hoch pokerten und verloren. Damit fiel weiteres Land an Israel, nicht durch Enteignung, sondern als direkte Folge militärischer Aggression gegen den jüdischen Staat.

Hier könnte Azdak vielleicht sagen: „Ihr hattet das Land, ihr habt es nicht genutzt, ihr habt es verkauft und als ihr versucht habt, es mit Gewalt zurückzuholen, habt ihr verloren.“ Nach seiner Logik könnte der Fall klar sein: Besitz wird nicht nur durch Anspruch bestimmt, sondern durch aktive Nutzung, und wer Land durch Krieg verliert, kann sich nicht im Nachhinein auf moralische Ansprüche berufen.

Das zeigt, dass Brechts Prinzip auch in der Geopolitik Anwendung finden kann und dass, wie im Kaukasischen Kreidekreis, nicht jeder Anspruch gleichwertig ist. Wer das Land pflegt und aufbaut, wer es verteidigt und wirtschaftlich nutzbar macht, der hat das stärkere Anrecht darauf.

Wer bekommt jetzt das letzte Stück Kuchen?

Das letzte Stück Kuchen steht für vieles im Leben: Manchmal bekommst du es, manchmal nicht, die wahre Kunst ist, nicht darauf angewiesen zu sein.