Albert Schweitzer

vom Vorbild zur „umstrittenen Figur“?

Heute habe ich mich wieder mal so richtig aufgeregt.

Im Tages-Anzeiger ist ein Artikel erschienen, der sich mit einer neuen Studie über Albert Schweitzer befasst. Die Berner Historiker Hubert Steinke, Hines Mabika und Tizian Zumthurm haben anhand von bisher wenig erschlossenen Quellen eine kritische Neubewertung seines Wirkens in Lambarene (Gabun) vorgenommen.

Ihr Fazit: Schweitzer habe sich zwar um die medizinische Versorgung verdient gemacht, sei aber tief in koloniale Denkmuster verstrickt gewesen.

  • Er bezeichnete Afrikaner als „Primitive“ und sah sich selbst als ihren „grossen Bruder“.
  • Sein Spital blieb dauerhaft von europäischer Hilfe abhängig, ohne nachhaltige Strukturen zu schaffen.
  • Er habe mit strikten Hierarchien und einem autokratischen Führungsstil regiert.
  • Bis in die 1960er-Jahre hielt er am Tragen eines Tropenhelms fest, was als koloniales Symbol gewertet wird.
  • Die Unabhängigkeit afrikanischer Staaten lehnte er als verfrüht ab.

Die Forscher argumentieren, dass Schweitzer aus heutiger Sicht eine ambivalente Figur sei – ein Pionier der humanitären Hilfe, aber auch ein Mann mit überholten Denkmustern seiner Zeit.

Hier der Originalartikel: War Albert Schweitzer in Wahrheit ein finsterer Kolonialist? | Tages-Anzeiger

Hier nun mein Kommentar den ich dem Tagi geschickte habe, (wurde natürlich abgelehnt)

Albert Schweitzer – vom Vorbild zur „umstrittenen Figur“?

Wow, was für eine erschütternde Erkenntnis. Jahrzehntelang galt Albert Schweitzer als eine der grössten humanitären Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts – jetzt soll er plötzlich ein „umstrittener Friedensnobelpreisträger“ sein? Seit wann, und wer entscheidet das? Wahrscheinlich ein moralischer Wächterrat.

Offenbar genügt es heute, sich der postkolonialen Modewelle anzuschliessen, um selbst jene in Frage zu stellen, die ihr Leben dem Wohl anderer gewidmet haben. Dass Schweitzer mit seiner Wortwahl und seinem Denken ein Kind seiner Zeit war, ist unbestreitbar. Aber wer ihn wirklich einordnen will, sollte ihn mit seinen Zeitgenossen vergleichen – und nicht mit den Massstäben des 21. Jahrhunderts, respektive mit den woke kids, die man früher einfach Milchbubis nannte.

Historische Relativierung oder gezielte Demontage?

Natürlich war das Denken damals anders, das gilt für jeden von uns. Mein eigenes Denken und meine Sprache unterscheiden sich bereits von denen meiner Kinder und Enkel, und das innerhalb von nur zwei Generationen. Der Wertewandel reicht bis in die Steinzeit zurück, denn alles ist im Wandel.

Aber muss man heute wirklich studiert haben, noch dazu Medizingeschichte (!), um zu dieser simplen Erkenntnis zu gelangen? Wow! Was ist bloss mit der Allgemeinbildung junger Studenten passiert?

Ein Muster, das wir immer häufiger beobachten:
Wer einst als Vorbild galt, wird nachträglich moralisch delegitimiert. Sogar Künstler und Intellektuelle sind beliebte Ziele.

  • Shakespeare? Ein Rassist!
  • Pablo Picasso? War ein Macho – also ab in die Tonne!
  • Albert Einstein? Hatte menschliche Schwächen – wird sicher bald entzaubert.
  • Coco Chanel? War mit den Nazis verbandelt – also canceln!
  • J.K. Rowling? Ganz gefährlich! Noch ist sie „nur“ transphob, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis man ihr auch etwas Handfestes anhängt. Vielleicht war Harry Potter doch eine subtile Hetzschrift? Vielleicht hat sie zu laut herumgeschrien? Man weiss es nicht, aber sicher ist: Es wird kommen.

Eigentlich alle, weil sie alle Menschen waren. Und Menschen sind nie ohne Makel.
Ausser natürlich die steinewerfenden Mitglieder des Wächterrates.

Denn, wie wir wissen:
Diese Menschen sind ohne Fehl und Tadel.
Diese Menschen urteilen immer gerecht.
Denn die Mitglieder des Wächterrates sind – wie Brutus – ehrenwerte Menschen. (Frei nach Shakespeare)

Fragen zur „kritischen Aufarbeitung“
Mich würde interessieren: Was genau ist das für eine Studie? Handelt es sich um eine Doktorarbeit, eine Gruppenarbeit oder ein gefördertes Forschungsprojekt? In welchem Studiengang wurde sie durchgeführt, und vor allem: Wer hat das finanziert und was hat die Studie gekostet?

Wurde hier eine These wissenschaftlich überprüft oder stand das Urteil von Anfang an fest? War es das Ziel, Albert Schweitzer als „kolonial belastet“ zu entlarven, oder ergab sich dieses Bild erst im Laufe der Untersuchung?

Oft liest man von „kritischen Aufarbeitungen“, aber selten wird transparent gemacht:

  • Welche Methodik wurde angewandt?
  • Welche Quellen wurden berücksichtigt – und welche bewusst nicht?
  • Gab es Gegenstimmen oder historische Einordnungen, die ein differenzierteres Bild zeichnen?

Und das gilt übrigens genauso für den Journalisten, der über diese Studie berichtet. Hat er die wissenschaftliche Arbeit überhaupt gelesen, oder übernimmt er unkritisch das Narrativ der Autoren? Wurde eine unabhängige Zweitmeinung eingeholt, oder wird einfach der nächste „Säulenheilige“ zu Fall gebracht, weil das heute im Trend liegt?

Historische Persönlichkeiten im Kontext betrachten
Kritische Forschung ist essenziell – aber dann bitte mit vollständiger Transparenz. Wer eine historisch bedeutsame Figur vom Sockel stossen will, sollte sich nicht nur an neu entdeckte Briefe klammern, sondern den gesamten historischen Kontext einbeziehen.

Schweitzer war ein Mann seiner Zeit, aber einer, der seiner Zeit voraus war. Seine Kritiker sollten sich fragen, ob sie selbst bereit wären, ihr Leben im afrikanischen Busch zu verbringen, um anderen zu helfen. Oder ob es einfacher ist, aus einem bequemen Uni-Büro in Bern mit dem Finger auf das 20. Jahrhundert zu zeigen.